Ein Gastbeitrag von: Mesopotamien Verein e. V. Augsburg zum Beitrag vom 18.04.2010 über die ADR-Doku „Aghet“
Die Vergangenheit der Assyrer ist, wie uns bereits die historischen Fakten aus der Zeit unmittelbar nach dem Untergang des assyrischen Großreiches bis zum heutigen Tage aufzeigen, von Verfolgungen, Unterdrückungen und schließlich grausamen Ermordungen gezeichnet.
Denn bereits nach dem signifikanten Fall von Ninive hat sich das assyrische Volk stets den fremden Herrschern und ihren Gesetzen unterwerfen müssen. So erlitt es zunächst unter dem persischen Reich König Kyros, der Herrschaft der Parther und den Sassaniden enorme Unterdrückungen. Mit der Ausbreitung des Islams begann überdies unter dem Byzantinischem Kaiserreich, dem Arabischen Kaliphat und dem Reich der Seldschuken die Phase der Christenverfolgungen. Somit leiteten die Übergriffe auf die Christen die systematische Vertreibung und Zerstreuung des assyrischen Volkes aus seinem Heimatgebiet ein. Fernerhin setzte damit auch ein enormer Einschmelzungsprozess ein, der wiederum das Volk der Assyrer in seiner Existenz gefährdete. So sollten die Mongolenstürme, welche gegen Ende des 14. Jahrhunderts unter der Führung des Feldherrn Timurlenk vonstatten gingen, das assyrische Volk in seiner Zahl und Einheit endgültig schwächen. Dieser Eroberer fiel mit seinen Armeen über das gesamte Gebiet der Assyrer her und vernichtete es bis auf einige spärliche Überreste. Die überlebenden Anhänger der syrischen Kirche zogen sich infolgedessen in das Hochland Nordmesopotamiens zurück, wo sie vom 15. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts isoliert in Enklaven lebten.
So haben die Assyrer in ihrer intellektuellen, nationalen und sozialen Entwicklung gewaltige Rückschritte durchlaufen müssen, da sie aufgrund ihrer äußerst beschränkten Möglichkeiten zumeist nur noch ein sehr einfaches, zurückgezogenes Leben auf dem Lande führten.
Innerhalb des osmanischen Reiches verfügten die Assyrer über ein eigenes „Millet“, das ihnen religiöse und kulturelle Autonomie einräumte. Jedoch veränderten sich nach dem Untergang des osmanischen Reiches die Bedingungen grundlegend. Der Bevölkerungsanstieg und die sich niederlassenden Nomadenvölker, wie der Kurden, verstärkten zusehends die Spannungen innerhalb des Landes. Während aufgrund der außenpolitischen Beziehungen die Osmanen zu Zeiten des Reiches das Milletsystem stärkten und somit die Minderheiten schützten, wurde mit dem Sturz der osmanischen Herrschaft erneut eine Periode der Diskriminierungen, Grausamkeiten und Willkür gegenüber den Christen eingeleitet.
So wurde im Jahre 1843 unter dem kurdischen Führer Badr Chan und den verbündeten Truppen des Emirs von Hakkari eines der größten Massaker gegen die Assyrer verübt. Dabei wurden Tausende Männer niedergemetzelt und deren Besitz niedergebrannt. Überdies wurden die hinterbliebenen Frauen und jungen Mädchen entführt, um sie dann unter Zwang zum Islam zu konvertieren. Diejenigen, die sich widersetzten, wurden kurzerhand verbrannt.
Nach nur wenigen Jahrzehnten der Ruhe, fanden zwischen den Jahren 1894 und 1896 wiederum zahlreiche Massaker durch die Kurden auf Befehl des Sultans Abdul Hamid II. statt. Die assyrische Bevölkerung wurde erneut dezimiert, ausgeplündert und misshandelt. So wurde das kurdische Volk als Instrument für eigene machtpolitische Ziele verwendet, in dem man es gegen die Assyrer aufhetzte, um so die einzelnen Volksgruppen untereinander zu schwächen. Auf diese Weise räumte man die Schwierigkeiten mit den Minderheiten im eigenen Land insofern aus, indem man sie nämlich auszurotten versuchte und ihre jeweiligen Autonomieansprüche bereits im Keim erstickte.
Im Jahre 1908 formierte sich im Zuge der Jungtürkischen Revolution unter der Führung von Talaat und Enver Pascha die Partei der Jungtürken, die sich auf den Prinzipien der Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit berief. Ausgehend von ihren Grundsätzen, schienen die Jungtürken anfangs alle ethnischen und religiösen Minderheiten innerhalb des Landes in ihre geplante multinationale und multikulturelle Regierung miteinzubeziehen. Jedoch erwies sich dies als Trugschluss, denn bereits fünf Jahre später steuerte die nun unter beiden Führern stehende Regierung einen völlig abweichenden Kurs von ihrer liberalen Gründungsidee an, getreu dem neuen Slogan „Türkei den Türken“. Damit gingen die Beschlagnahmung der Besitztümer der Christen, ihre Vertreibung und grausame Ermordung einher. Selbstverständlich waren es zunächst der Klerus, die Lehrer und weitere führende Persönlichkeiten, die verhaftet, deportiert und anschließend hingerichtet wurden.
Während dieser Zeit vertiefte sich die Allianz Deutschlands mit der Türkei und mit der Kriegserklärung im selben Jahr noch, nämlich 1914, begann der erste Weltkrieg. Dieser leitet nämlich eines der wohl schwärzesten Kapitel der assyrischen Geschichte, das in Form des Genozids Anfang des 20. Jahrhunderts über die Assyrer einbrach, ein. Hierüber liegt nun bezeichnenderweise zugenüge Material vor. Denn anhand von zahlreichen Dokumenten, Berichten und Augenzeugenaussagen kann der Völkermord makabererweise fast schon in seinem detaillierten Verlauf nachkonstruiert werden.
Verwüstungen und Ermordungen
Auszug aus dem ADO-Dossier: „Plädoyer für die Anerkennung eines vergessenen Genozid“ (eingereicht im April 2002 beim Europäischen Gerichtshof in Den Haag)
[…] Zu Beginn des Ersten Weltkriegs zögerte das Osmanische Reich bei der Wahl des politischen Lagers. Unter dem Druck der Deutschen stellte es sich Anfang November 1914 auf die Seite der zentralen Mächte. Die Lage der Assyrer ist schwierig. Sie leben in einem Gebiet, das für die Türken sehr wichtig ist, um ihre imperialistischen Pläne über die transkaukasischen und zentralasiatischen Völker verwirklichen zu können. Weil sie an die Stunde der Befreiung von der Fremdherrschaft glaubten, nahmen sie auf der Seite der Alliierten an der kaukasischen Front am Krieg teil: Zunächst mit den Russen von Mai 1915 bis Oktober 1917, anschließend mit den Briten und den Franzosen von Dezember 1917 bis Juli 1918, nach dem Truppenrückzug und der bolschewistischen Revolution.
Der Krieg wurde für die Assyrer sehr mörderisch: Mehrere 10 000 verloren ihr Leben durch türkische oder irreguläre kurdische Truppen. Darüber gibt es bis heute zahlreiche und aufschlussreiche offizielle Dokumente. Eines der wichtigsten, Das Blaue Buch: „Die Behandlung der Armenier im Osmanischen Reich“, herausgegeben von dem Historiker Arnold Joseph Toynbee, der auch die Massaker an den Assyrern während des Ersten Weltkriegs behandelte. Von dem 684 Seiten starken, englischem Original befassen sich 104 Seiten mit den Assyrern, aufgeteilt in 20 Dokumente (von 147 Dokumenten); das ganze Kapitel IV „Azerbaijan and Hakkari“ ist ihnen gewidmet und besteht aus 19 Dokumenten (Nr. 27 bis 45, S. 99-192), sowie der letzte Bericht Nr. 147 (S. 577-588). Alle diese Dokumente stammen von Augenzeugen aus Ourmiah, Salamas, Hakkari, Bohtan und Tabriz, sieben von ihnen sind amerikanische Missionare, drei amerikanische, diplomatische Vertreter, ein amerikanischer Arzt in Ourmiah, ein englischer Missionar und vier Assyrer. Sie berichten von der ersten Periode des Genozids, von den 15 Monaten vom 2. Januar 1915 bis 14. April 1916. Dieser Text ist in erster Linie eine Darstellung des Unheils, das über das assyrische Volk hereinbrach, und er enthält eine Fülle von Belegen über die Massaker im Nord-Westen von Persien (Ourmiah und Salamas) und im Südosten der Türkei (Tur Abdin, Bohtan und Hakkari).
Im Winter 1914/15, als die Türken eine Offensive im Kaukasus gegen die Russen starteten, schickten sie eine Armee aus Kurden in die persische Provinz von Aserbeidschan, im Osten von Van, am Westufer des Sees von Ourmiah, dessen Bevölkerung in der Mehrzahl Assyrer aber auch Armenier waren. Die russischen Kräfte, die die Provinz seit 1911 besetzten, waren am 2. Januar 1915 zu schwach, um sich Richtung Norden zurückzuziehen. Die türkisch-kurdischen Truppen drangen bis Tabriz vor, während die assyrischen Dörfer am Westufer des Sees von Ourmiah fast fünf Monate Widerstand leisteten, von Januar bis Ende Mai 1915. Die Russen wurden bei ihrem Rückzug von einem Teil der Bevölkerung verfolgt – fast 15 000 – , die unter dem harten Winter litten.
Ab dem 24. April 1915 ordnete die Regierung nach einem präzisen Plan die Verschleppung der Assyrer aus den Ortschaften Trebizon, Erzerum, Bitlis, Diyarbakir, Kharpout und Sivas an. Eine „Spezial-Organisation“ (O.S.) wird mit der Durchführung des Plans betraut. Sie bestand aus Verurteilten, aus dem Gefängnis Entlassenen, von der Partei der Union und des Fortschritts (Ittihad ve Terakki) angeheuert und ausgerüstet wurde. Diese parallele Organisation unter der Führung von Beha Eddine Chakir, unterstand dem Zentralkommitee von Ittihad. Konstantinopel übermittelt die Anweisungen an die Valis (Gouverneure), an die Kaimakams (Bürgermeister) und an die Verantwortlichen vor Ort der O.S. Letztere können nach freiem Ermessen handeln und können ganz nach ihrem Gutdünken widerspenstige Beamte oder Polizisten versetzen.
Die verbreitete Methode, der fortbestehende Befehl zur Evakuierung der Städte, der fortbestehende Marsch der Deportierten: all das festigt die Existenz eines zentralen Kommandos, das den reibungslosen Ablauf des Programms sicher stellen soll. In jeder Stadt, in jeder Burg wird die Deportation angekündigt: die Familien haben zwei Tage Zeit, um etwas von ihrem persönliche Hab und Gut zusammen zu suchen. Ihr Besitz wird beschlagnahmt oder eilig verkauft. Zuvor wurden wichtige Persönlichkeiten, der Klerus und junge Leute verhaftet, sie wurden gezwungen vorher Niedergeschriebenes zu unterschreiben, danach wurden sie hingerichtet. Die Gruppen der Deportierten bestehen aus Frauen, Alten und Kindern. In den abgelegenen Dörfern wurden die Familien massakriert und ihre Häuser verbrannt oder besetzt. Auf dem Tigris, in der Nähe von Diyarbakir, sind Flüchtlingsboote gesunken.
Von Mai bis Juli 1915 wurden die orientalischen Provinzen, vor allem die Region des Tur Abdin von Soldaten und türkischen Gendarmen verwüstet, sowie von den Banden der O.S. und den vor allem kurdischen „Tchetes“. Während Raub, Plünderung, Folter und Mord hingenommen und unterstützt wurden, wurde jede Unterstützung der Assyrer von den türkischen Stellen streng bestraft.
Die Operation konnte nicht geheim bleiben. Von den Missionaren und Konsulen unterrichtet verlangten die Nationen der Entente von der türkischen Regierung ab dem 24. Mai, diese Massaker zu beenden, und sie machten die Regierungsmitglieder persönlich dafür verantwortlich. Die Türkei gab per Dekret den Befehl zur Deportation unter dem Vorwand des Verrats der Assyrer.
Die Deportation ist in der Tat eine verschleierte Form der Auslöschung. Zu Beginn werden die Widerständler vernichtet, Hunger, Durst und die Massaker schwächen den Konvoi. Tausende von Leichnamen lagen am Wegesrand. An Bäumen und Telegrafenmasten hängen die Gehenkten; die Flüsse sind voller verstümmelter Körper, die an der Böschung strandeten.
Von den 400 000 Assyrern in der Region von Hakkari, Bohtan und Tur Abdin können etwa 38 000 in den Kaukausus fliehen, mehr als 80 000 Frauen und Kinder werden entführt, die anderen werden an Ort und Stelle getötet oder deportiert. Es bleiben nicht mehr als 100 000 Überlebende.
Ende Juli 1915 vollzieht die Regierung eine Übersiedlung der assyrischen Bevölkerung in die entfernten Regionen, in der ihre Präsenz nicht als Gefahr für die türkische Armee gesehen werden kann. Die Kolonnen der Deportierten werden in den Süden geschickt, viele verlieren auf dem Weg ihr Leben. Von Alep, einem Kreuzungspunkt der Deportiertenströme, werden sie in ein Sammellager in Hama, in Homs und in der Nähe von Damas geschickt. Diese Lager nehmen etwa 120 000 assyrische und armenische Flüchtlinge auf, von denen die meisten, die zu Kriegsende noch am Leben sind, 1919 im Libanon, in Palästina und in Cilicie eine neue Heimat finden.
Von März bis August 1916 kam der Befehl aus Konstantinopel, die letzten Überlebenden in den Lagern entlang der Flüchtlingsströme oder an der Böschung des Euphrat zu töten. Ein Teil der Überlebenden der Massaker floh nach Syrien, in den Libanon oder Irak, ein anderer Teil floh Richtung Armenien, nach Russland oder Georgien.
Die, die in die Stadt Ourmiah flohen, erlitten alle Formen von Grausamkeiten während der 20wöchigen türkisch-kurdischen Besetzung der Stadt. Die Schlussfolgerung des britischen Blauen Buches über diesen Leidensweg ist deutlich. Die Verantwortung der türkischen Autoritäten ist offensichtlich: „Es gibt keine Klasse, die man von diesem Vorwurf ausnehmen kann. Die Dorfbewohner beteiligten sich an den Plünderungen und an den Verbrechen und die Perser der Oberschicht tolerierten diese Untaten und profitierten von der Beute. Die Kurden waren in ihrem natürlichen Element. Die Türken provozierten nicht nur alle, sondern waren auch an Unheil und Verbrechen beteiligt. Man kann mit Recht sagen, dass ein Teil dieser Untaten und Verwüstungen direkt von den Türken ausgeübt wurde und dass ohne sie nichts erreicht worden wäre.“
Wenngleich man daran erinnern muss, dass einige assyrische Familien in den großen Städten dem Tod nur durch die amerikanischen Missionaren und dem apostolischen Nuntius entkommen sind; einige assyrische Familie wurden in den Dörfern von dem mutigen Eingreifen von türkischen Beamten gerettet oder sie konnten sich bei türkischen oder kurdischen Freunden verstecken.
Insgesamt lässt sich Ende 1916 die Zahl der Überlebenden, bestehend aus den Flüchtlingen, den Ausgewanderten und zum Islam Konvertierten auf etwa 750 000 schätzen bei einer geschätzten Bevölkerungszahl 1914 von etwa 1.000 000. Mehrere Appelle erreichten die Spitzen der europäischen Länder und manche schrieben es auch nieder, um die Taten bekannt zu machen und die Weltöffentlichkeit zu alarmieren.
Der Konsul von Russland, in Ourmiah während des Kriegs, Kolonel Vasili Niktine schrieb: „Unter den nicht souveränen Völkern, die am großen Krieg teilnahmen, blieben nur die Chaldäer im Schatten. Nur wenige kennen sie und man interessiert sich kaum für sie. Wenn man die Zahl ihrer Verluste vergleicht, ist die Unverhältnismäßigkeit ganz offensichtlich und die Chaldäer hatten das Recht zu hoffen, dass man ihrer gedenkt und ihnen eine bessere Existenz garantiert, zum Ausgleich ihrer Leiden“ (Eine kleine Nation Opfer des Krieges: die Chaldäer, Paris, Revue des Sciences Politiques, Félix Alcan, 1921, t. XLIV, S. 602-625).
Am Tag nach dem Sieg der Alliierten und dem zerstörten Osmanischen Reich schöpften die Assyrer wieder Hoffnung. Sie waren überzeugt, dass Großbritannien und Frankreich ihnen ein nationales Gebiet in ihrem angestammten Land gewähren würden. Es war aber viel wahrscheinlicher, dass die Briten, die den Irak seit 1918 besetzten, wohlgemerkt mit Hilfe der „Assyrischen Levies“, sich für eine Autonomie einsetzen würden, in der Form, dass sie ihnen die Sicherheit und eine ehrwürdige Existenz garantieren würden.
Frankreich hatte ähnliche Absichten, es hatte in Syrien ein assyro-chaldäisches Bataillon eingerichtet. General Gouraud erklärte 1920, dass Frankreich „entschlossen ist, den Assyro-Chaldäern, die auf dem Gebiet leben, für das sie ein Mandat haben, die Unabhängigkeit geben wollen sowie die Garantien für Minderheiten“.
Bei den Friedensverhandlungen in Paris 1919 richteten sich mehrere assyrische Delegationen an die Alliierten. Sechs Memoranda wurden an das Sekretariat der Konferenz gerichtet und fünf Delegationen waren dort anwesend. Alle reklamierten ohne Ausnahme einen assyrischen Staat. Die verschiedenen assyrischen Delegationen nährten die großen Ansprüche, aber präsentierten die notariellen Unstimmigkeiten vor allem auf dem Gebiet der Politik. Sie unterschieden sich fundamental von der Schutzmacht und von dem eventuellen Mandat des Völkerbunds (S.D.N. = Sociéte des Nations). Die Katholiken und Orthodoxen favorisierten mit Sicherheit ein französisches Mandat unter dem Schutz des Völkerbundes; während die Assyrer der Kirche des Ostens und die Protestanten mit den britannischen und amerikanischen Projekten liebäugelten. Die unterschiedlichen Haltungen kamen im Abschluss der Positionen von 1919-1921 zum Ausdruck, nach den Debatten und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, wurden die Diskussionen zunehmend polemisch. Diese Missstimmungen und Risse durch die nationale assyrische Bewegung schadeten nicht nur ihrer Union sondern schwächten sie auch vor den Alliierten.
Am 10. August 1920 wurde der Vertrag von Sèvres zwischen den Siegermächten und der Türkei unterzeichnet. Er teilte die großen Teile von Anatolien zwischen den Italienern, den Briten und den Franzosen und bevorzugte die Griechen in der Ägäis. An Stelle eines Staates erteilte der Vertrag den Assyrern Garantien und einen Schutz in einem autonomen Kurdistan. Was die Assyrer betrifft hieß es: „Dieser Plan muss die kompletten Garantien zum Schutz der Assyro-Chaldäer und anderer ethnischen und religiösen Minderheiten in dieser Region umfassen.“ (Artikel 62, Sektion III Kurdistan, politische Klausel). Dieser Vertrag schränkt ganz gewaltig das assyrische Land ein, verleiht nur „Garantien“ in einer feindlichen Umgebung, lässt die assyrische Zukunft weitgehend dem Willen des Nachbarn unterworfen und was noch schwerer wiegt, das assyrische Element fehlte total, vor allem als Akteur, politischer Unterhändler und Grenzbewohner.
Außerdem war das „türkische“ assyrische Land fast ohne seine Bevölkerung in diesem August 1920. Die Massaker, die Deportationen, der Exodus in Richtung Persien, den Kaukasus, nach Syrien und in den Irak haben das Projekt „Komplette Garantien zum Schutz der Assyrer“ in einen platonischen Wunsch verwandelt.
Drei Jahre nach dem Vertrag von Sèvres, der für Mustafa Kemal inakzeptabel war und den er deshalb zurückwies, hat der Vertrag von Lausanne die politische Autonomie der Assyrer und der anderen ethnischen Minderheiten annulliert. Eine assyrische Delegation präsentierte im Namen des „Nationalen Rats der Assyro-Chaldäer“ spezielle Reklamationen an die Konferenz von Lausanne im Dezember 1922 und Januar 1923. Drei Noten sind an die Konferenz adressiert, in denen die Delegierten gegen die Forderungen der Türken protestierten, die es für sich beanspruchten. Sie plädierten in Lausanne für ihr Volk. Die Verhandlungen in der assyrischen Sache wurden auf dieser Konferenz auch sehr zurückgeschraubt. Die türkischen Diplomaten wollten von keiner Autonomie etwas hören: weder von der assyrischen, noch der kurdischen, noch der armenischen. Für die Türken waren die Assyrer Verräter.
Zu guter Letzt enthielt der Vertrag von Lausanne – wie übrigens auch der Vertrag von Sèvres – Klauseln zum Schutz von nicht-islamischen Minderheiten. Sektion III (Schutz der Minderheiten, Artikel 36 bis 44) dieses Vertrags ist genau der Verteidigung und dem Schutz der nicht-islamischen Bevölkerung gewidmet. Artikel 36 macht aus dieser Verfügung ein fundamentales Gesetz. Aber die Assyrer werfen den Autoritäten vor, diese Klausel nicht anzuerkennen.
Seit 1923 nahm der Exodus immer mehr zu. In dieser Zeit kamen einige Flüchtlinge nach Frankreich und in die USA.
Auf diese Weise – der Lausanner Vertrag war unterzeichnet und ratifiziert – wurde die türkische Republik als neue Macht bestätigt zum Nachteil der Minoritäten in der Diaspora.
1924 folgte ein Teil der Überlebenden der türkisch-kurdischen Verfolgung im Süd-Osten der Türkei der britischen Armee in den Nord-Irak, die Assyrer wurden in Lagern untergebracht: zunächst in Bakouba, dann in Mosul, Dohuk, Amady … nicht weit entfernt übrigens von ihrem Gebiet vor dem Krieg; sie träumten davon, eines Tages ihre Häuser und ihr Gut wieder zu finden. Die Hoffnung ist schnell verschwunden, denn es verging mehr Zeit. Sie waren auch immer mehr davon überzeugt, dass sie nunmehr Flüchtlinge waren, vor allem nachdem am 16. Dezember 1925 Hakkari als türkisches Gebiet vom Völkerbund bestätigt wurde, der bei gleicher Gelegenheit das Gebiet von Mosul dem Irak zuteilte.
Die Jahre 1924 bis 1926 waren für die Assyrer turbulent. Die Assyrer vom Tur Abdin und von Mardin wurden verjagt und der syrische Patriarch verlor seinen Amtssitz. Neue Massaker fanden statt und ein weiterer Teil der Bevölkerung des Tur Abdin floh nach Syrien (Djezireh) […]. (Ende des Auszuges)
Am 7. August 1933 wurde das letzte große Massaker des 20. Jahrhunderts an den assyrischen Bewohnern des Dorfes Simele verübt. Hierbei wurde das Dorf ohne jegliche Warnung angegriffen, die Männer auf übelste Weise gefoltert und die Mädchen und Frauen vergewaltigt und deportiert. Die Angreifer scheuten nicht einmal davor, selbst die Kinder zu misshandeln. So mussten mehrere tausend Männer, Frauen und sogar Kinder auf qualvolle Weise sterben.
Dies sollte nur einen äußerst groben Abriss vom großen Leid des assyrischen Volkes darstellen und anhand dessen die erfahrenen Unterdrückungen und weiteren Grausamkeiten zumindest ansatzweise illustrieren. Denn die eigentlichen Leiden bleiben in den Köpfen der Ermordete und Opfer und sind in keinster Weise in ihrem Ausmaß in Worte zu fassen. Somit bleiben auch aufgrund dessen all die anderen unzähligen Verfolgungen und Ermordungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte ereignet hatten, hier unerwähnt. Ferner mag man wohl auch annehmen, dass die Diskriminierungen nun endlich der Vergangenheit angehören. Doch leider ist dem nicht so, da derartige Missstände in den Heimatländern nach wie vor andauern, so dass die Assyrer seit dem Verlust ihres eigenen Gebietes nie Frieden gefunden haben, sondern stets Unterdrückungen zu ertragen hatten und haben.
Damit nun diese einschneidende und zugleich traurige Kapitel der assyrischen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten, einigte man sich in Anlehnung an das grausame Massaker von Simele auf den 7. August als Tag der Märtyrer. An diesem Tag wird alljährlich den ermordeten, gefallenen und massakrierten Persönlichkeiten gedacht, die für ihre Ideale und Werte im Sinne des assyrischen Volkes sich gegen ihre Unterdrücker widersetzten und infolgedessen ihr Leben lassen mussten. Nun liegt es vor allem an den kommenden Generationen sich der Vergangenheit bewusst zu werden und somit ihre Märtyrer zu ehren, um so ihre Ideen und Gedanken bezüglich der Bewahrung der eigenen Kultur, Religion und Sprache, also Nation, zu bewahren.
Augsburg, im April 2003
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