Der in China inhaftierte Dissident Liu Xiaobo hat den diesjährigen Friedensnobelpreis erhalten, wie der Präsident des Nobelpreis-Komitee Thorbjoern Jagland heute in Oslo nun bekannt gab. Als Begründung wurde angeführt, das Liu das anführende Symbol für den Kampf um Menschenrechte in China sei. Der Friedensnobelpreis wird seit 1901 auf Initiative von Alfred Nobel verliehen, er wird mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (ca 1,5 Millionen Dollar) dotiert und ist der einzige Nobelpreis, der in Oslo (statt in Stockholm) verliehen wird. Das Friedensnobel-Komitee besteht aus fünf Mitgliedern und wird vom norwegischen Parlament ernannt, naturgemäß spiegelt die Zusammensetzung des Parlaments die des Komitees wieder, obschon der Friedensnobelpreis der älteste seiner Art für Friedensbemühungen darstellt, ist die Vergabe an sich ein Politikum. Im letzten Jahr wurde US-Präsident Obama mit dem Preis geehrt, ein Präsident der formal den Krieg in Afghanistan mit aller gebotenen Härte zu Ende führen will.
Dabei kann sich die Liste der Friedensnobelpreisträger sehen lassen, als erste haben Henry Dunant (Gründer des Roten Kreuzes) und Frédéric Passy (Gründer der Internationalen Friedensliga) 1901 den Preis erhalten. Nach dem Ersten Weltkrieg bekam US-Präsident Woodrow Wilson für die Initiative zur Gründung des Völkerbundes den Preis anerkannt. Gustav Stresemann (1926) und Ludwig Quidde (1927) bekamen während der Weimarer Republik für ihre aussenpolitische Bemühungen zum Ausgleich den Preis verliehen. Während der Nazi-Zeit in Deutschland wurde Carl von Ossietzky (1935) mit dem Nobelpreis geehrt, daraufhin verbat die Nazidiktatur für „Reichsdeutsche“ die Annahme des Preises. Die Liste wird fortgesetzt mit Martin Luther King (1964), Willy Brandt (1971) für seine Ostpolitik, Tendzin Gyatso (bekannt als Dalai Lama, 1989), auch Organisationen wie UN oder ILO (international Labour Organisation) wurden schon geehrt. Auffallend ist, dass im Zuge des Kalten Krieges nur solche Menschen im Ostblock geehrt wurden, die als Dissidenten (Lech Walesa, Andrei Sacharow) im System galten, die meisten Preise gingen an Vertreter westlicher Staaten.
Der diesjährige Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo wurde 1955 in Changchun geboren. Er studierte an der Jilin-Universität (Changchun, Nördlich von Peking, drei Millionen Einwohner) Literatur, wechselte dann an die Universität von Peking und absolvierte sein Studium mit dem Doktortitel. Bei den Studentenprotesten von 1989 beteiligte er sich, wurde anschließend von seiner Arbeit entlassen und saß zwischen 1989 bis 1991 im Gefängnis. Von 1996 bis 1999 wurde er zur Umerziehung durch Arbeit inhaftiert, eine Möglichkeit in China, scheinbar kriminelle Menschen ohne Gerichtsurteil bis zu vier Jahren zu inhaftieren. Nach seiner Entlassung wurde Liu 2003 zum Präsidenten des chinesischen Ablegers des Pen-Clubs (internationale Schriftstellervereinigung) gewählt. In 2008 wurde Liu erneut inhaftiert, ihm wird „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ vorgeworfen, da er an der so genannten Charta 08 mitgewirkt haben soll. Im Prozess wurde Liu zu einer Haftstrafe von elf Jahren verurteilt.
Die Charta 08 ist ein Manifest von ca. 500 chinesischen Intelektuellen, die politische Reformen (wie der Einführung der Gewaltenteilung) fordert. Doch die Charta 08 rief auch unter den chinesischen Dissidenten Kritiken hervor, da sie die soziale Lage der Bauern und Arbeiter ignoriere.
Und genau hier kann eine berechtigte Kritik, auch zur Vergabe des Nobelpreises, erfolgen. Unbestreitbar besteht in China eine Parteiendiktatur, mit allen zugehörigen Konsequenzen (wie eingeschränkte bis keine vorhandene Meinungsfreiheit, keine Parteien nebst KP, keine Gewaltenteilung etc). Denn so lange China als verlängerte Werkbank der Welt fungieren kann, so lange wie ausländische Unternehmen in China zu äusserst menschenunwürdigen aber profitablen Konditionen ihre Produkte herstellen lassen können, so lange kann und wird geschwiegen. Die Lage der Wanderarbeiter (immerhin an die 100 Millionen), die Lage der Arbeiter in chinesischen und ausländischen Fabriken (wie jüngst von Apple, mit einer Serie von Suiziden weil Arbeiter völlig verzweifelt sind), mit einem Tagespensum von 12 und mehr Stunden zu menschenunwürdigen Löhnen, ist nicht Gegenstand der westlichen Kritik. Das Menschenrecht, das das Nobel-Komitee hier indirekt einfordert, ist kein Soziales, sondern ein Formales. Ob durch demokratische Prozesse die Situation der meisten Chinesen wesentlich verbessert wird, darf bezweifelt werden. Hauptsache, die Chinesen, die es sich leisten können, sollen westliche Produkte konsumieren, und eben nicht kopieren. Hauptsache China stellt unsere Konsumgüter her, die möglichst günstig sein sollen, und am Besten mit der Möglichkeit, dass Chinesen auch alle Jahre Kreuzchen machen dürfen.
Die zweite Kritik ist die Frage der Einmischung in die Belange eines souveränen Staates. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war sich die Weltgemeinschaft sicher, dass die Menschenrechtsverletzungen im Dritten Reich juristisch aufgearbeitet werden müssen, ein Novum in der Weltpolitik. Seitdem darf sich kein Staat sicher sein, dass Einmischungen von Außen auch formal eben nicht folgen. Nun mag man zum chinesischen System, welches im Übrigen wirklicher Kritik bedarf, stehen wie man will, doch China ist kein Failed State im wissenschaftlichen Sinne. Wenn nun der Sprecher der Bundesregierung Seibert fordert, China solle Liu zur Verleihung am 10. Dezember freilassen, ist dies nicht nur überheblich, sondern auch falsch. Abseits von der vermeintlichen Systemfrage (die eben im Falle Chinas seit Jahrzehnten nicht besteht), hier eine Überlegung. Man solle sich vorstellen, die KP Chinas denkt sich einen Preis für Menschenrechte (in ihrem eigenen Sinne) aus, und hat 1976 diesen Preis an Andreas Baader und Ulrike Meinhof ausgesprochen, zur Preisverleihung solle die Bundesregierung beide Terroristen aus der Haft entlassen. Abstrus, gewiss, doch aus chinesischer Sicht passiert genau das. Oder der selbe Preis wird an die Führer der ETA in Spanien ausgesprochen, so geschehen mit dem Friedensnobelpreis 1989 an den Dalai Lama, man denke an den Aufschrei in diesen Ländern. Aus Sicht der chinesischen Führung versucht der Westen, die chinesischen Weltmachtambitionen mit moralischen Sticheleien zu untergraben, was sie eben nicht begrüßen kann.
Eine Kritik, die eben nicht heuchlerisch daher kommt, ist im Falle China nicht nur begrüssenswert, sondern auch erforderlich. Doch diese Kritik kann nicht erfolgen, wenn man die Sichtweise der chinesischen Administration nicht einkalkuliert. Die Forderung nach demokratischen Werten in China muss erfolgen, doch den Dalai Lama ins Bundeskanzleramt einzuladen, gleichzeitig aber Milliardenschwere Verträge mit China abzuschließen, kann nur heuchlerisch sein. Die vermeintliche moralische Überlegenheit, verknüpft mit westlicher Arroganz und westlichem Geschäftssinn, kann nur die chinesische Administration herausfordern. Und die chinesische Staatsführung wird reagieren, sie wird neue Partner (wie Russland oder Indien) aufsuchen. Es bleibt zu hoffen, dass die chinesischen Dissidenten wie Liu (und vermeintliche Drogenhändler, Prostituierte etc.) eines Tages aus dem Gefängnis kommen, hoffentlich aufgrund innerstaatlicher Prozesse.