Christoph Schlingensief ist im Alter von 49 am heutigen Samstag verstorben, das enfant terrible der deutschen und wohl auch der internationalen Theaterbühne wird fehlen, glaubt man all den Kondolenzbekundungen der deutschen Prominenz. Mir persönlich ist Schlingensief erstmals aufgefallen, als er auf MTV vor ziemlich genau zehn Jahren die Sendung U3000, tja, wie soll man sagen, moderiert (?), veranstaltet (?) oder orgiastisch gefeiert hat? In mein Gedächtnis hat sich folgende Szenerie regelrecht eingebrannt: ein nackter Mann kriecht auf dem Boden eines U-Bahn Waggons, dahinter steht Schlingensief und zitiert aus der Bibel. Während dessen schiebt er dem kriechenden Mann eine Karotte (mit Verlaub) in den Arsch, die anwesenden Menschen wirken völlig verstört und sind wirklich empört. Ich persönlich war total perplex, anfangs fand ich die Szene mehr nur als geschmacklos, doch je weiter ich daran dachte, fand ich, das war Kunst (obschon ich selber keine Ahnung von Kunst habe). Es war verstörend, es war grotesk, aber es war keine Aktion wie bei Jackass, nur des Ekels willen, es war sehr provokant und ein Jeder hat sich dabei was denken können. Inzwischen weiß ich, Schlingensief hatte recht, nach den Sex-Skandalen innerhalb der Kirchen in Deutschland hatte Schlingensief schon damals die Heuchelei der Kirche (heilig nach außen, dreckig im Inneren) benannt und kritisiert.
Danach (wie zuvor) fiel Schlingensief immer wieder durch kontroverse Aktionen bundesweit auf. Er liebte es zu provozieren, machte aber dabei aufmerksam auf relevante Themen und traf nicht immer meinen Geschmack. Nur die Inzenierung des Parsifal in Bayreuth anno 2007 werde ich ihm nie verzeihen, alleine schon (und das ist nicht nur Geschmackssache), weil das ganze Brimborium und der Kult um den ollen Anti-Semiten Wagner mitsamt einer feierwütigen Polit- und Wirtschaftsprominenz mir persönlich (nochmals Verzeihung) auf den Sack geht. Zu meinem Entsetzen erntete Schlingensief auch noch gute Kritiken, die Feuilletonseiten der Zeitungen ersoffen sich regelrecht in einer unsinnigen, aber klug gemeinten Lobhudelei: “ Doch hat sich Schlingensief auf der rotierenden Drehbühne aus Nomadenbauten und multifunktionalen Kinoleinwänden ein Einsteinsches Raum-Zeit-Kontinuum geschaffen, darin Tod, Auferstehung und Wiedergeburt zu einem Mirakel zusammenfallen.“ (Eleonore Büning , FAZ vom 4. August 2007). Ich als Kunstbanause verstehe weder Büning (was meint diese wortklaubende Satzverdreherin), noch Schlingensief, hatte er damals doch DIE Möglichkeit, der Elite dieses Landes ein verzerrtes, aber ehrliches Spiegelbild vor die Fratze zu halten (jetzt klinge ich schon wie Büning, FUCK!!!).
Was also war Schlingensief eigentlich? Ein Provokateur? Ein Theaterregisseur? Ein Filmemacher? Ein Aktionskünstler? Ich denke, der umtriebige Schlingensief war Kunst und wie in der Kunst üblich, nicht jeder Manns Geschmack (auch nicht immer meiner) und nicht für jeden verständlich, aber doch auffallend und sehr plakativ. Der ehemalige Ministrant der katholischen Kirche hatte schon im Alter von 12 Filme gedreht, er blieb zeitlebens aktiv. Schlingensiefs 100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker (1989) schlägt um Längen Hirschbiegels Der Untergang, denn anders als in diesem Film mit einem menschelnden Hitler zeigte Schlingensief einen realistischeren Diktator, obschon er sich nicht an den exakten geschichtlichen Ablauf hielt. Der vor Ironie strotzende Streifen Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) überzeichnet gewalttätig die damals vorbehaltlos und kritikfreie vorherrschende Freude der Wiedervereinigung und übertrifft in aller Hinsicht das amerikanische Original. Auf der Documenta X in Kassel wurde er 1997 verhaftet, weil er ein Schild trug, mit der Aufforderung „Tötet Helmut Kohl“. Das Provozieren lag ihm, vielleicht regte er aber auch zum Nachdenken an.
Die Big Brother Version von Schlingensief (Ausländer raus! Schlingensiefs Container, 2000), mit Asylsuchenden im Container, statt medial-Fetischisten, die per Anruf rausgeworfen werden konnten, war eine deutliche Kritik zur herrschenden Haltung gegenüber Ausländern in Österreich, und wäre heute um so dringender nötig als jemals zuvor. Als 2008 Lungenkrebs festgestellt wurde, hat Schlingensief seine Krankheit in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt, und löste damit Kontroversen aus. Denn es gilt, an Krebs leiden und sterben darf man in diesem Land nur leise im Krankenhaus, alles Andere ist obszön.
Die, die heute Tränen vergiessen und Schlingensief einen Großen nennen, gestern aber alles unternommen haben um sein Wirken einzuschränken, werden eine Straße, ein Theater oder ein Platz nach Schlingensief benennen, sie werden sich nicht mal dafür schämen. Sie haben ihn schlicht nicht verstanden, genau so wenig wie ich. Und nun überlassen wir Schlingensief die ihm gebührende Bühne, und lassen den Agent provocateur noch einmal wirken:
“ Mir kommt es so vor, als würde ganz Deutschland auf dem Klo sitzen und stöhnen. Man weiß genau, was passieren muss, damit es endlich mal weitergehen kann, aber der Deutsche sitzt da und schimpft, dass kein Klopapier da ist und er deshalb nicht kann. So ist Deutschland. „
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Sehr traurig… ein Ausnahmekünstler, der fehlen wird…