Am gestrigen Sonntag haben 50 Millionen Stimmberechtigte in der Türkei über den Entwurf der Verfassungs-Reform der regierenden AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) von Ministerpräsident Erdogan abstimmen dürfen, 58 % der abgegebenen Stimmen votierten mit einem Ja, demnach wurde die Verfassungsreform über die Volksabstimmung angenommen. Die Verfassungsreform beinhaltet die Änderung von insgesamt 26 Bestandteilen der Verfassung von 1982, die einst vom türkischen Militär nach dem Putsch von 1980 eingesetzt wurde. Im Wesentlichen wird die Rolle des Militärs neu definiert, die zivilen Kräfte in der türkischen Politik gestärkt. Während das Ergebnis in der Türkei ein geteiltes Echo im Lande selber verursachte, werten die Vertreter der EU und der USA die Verfassungsreform als richtigen Schritt hin zur Harmonisierung mit westlichen Demokratievorstellungen.
Alles Kemalisten in der Türkei?
Auch wenn sich sämtliche Verfassungen der türkischen Republik (Verfassung von 1924, 1961, Änderung der Verfassung 1971 mit Stärkung des Militärs, 1982) sich auf den Republik-Gründer Kemal Atatürk berufen, im Wesentlichen werden längst nur noch der Laizismus (strikte Trennung von Staat und Religion), der Republikanismus und die türkische Variante des Nationalismus (Unteilbarkeit der Türkei, Absage an Turanismus und Panislamismus) praktiziert, die anderen Kernpunkte des so genannten Kemalismus (Populismus: klassen- und schichtübergreifendes Solidarkonzept, Etatismus: starke Rolle des Staates in der Wirtschaft und Revolutionismus: beständige Modernisierung des Staates) wurden mehr oder minder fallen gelassen. Das Konterfei Atatürks prangt auf allen Münzen, Geldscheinen und in allen staatlichen Gebäuden (Gerichte, Schulen und Amtszimmer), als so genannte Hüter des Kemalismus verstehen sich die sozialdemokratischen Parteien (CHP, DSP), viele Professoren der Hochschulen und vor allem das türkische Militär.Doch auch die konservativ-islamisch geprägte AKP unter Erdogan gibt sich betont Kemalistisch und beruft sich bei allen bietenden Möglichkeiten auf Kemal Atatürk, wobei gewisse anti-kemalistische Strömungen (insbesondere islamistische Kreise hassen regelrecht Atatürk, dieser hatte das Kalifat abgeschafft und wird deswegen von diesen als „blonde Schlange“ bezeichnet) innerhalb der AKP aufgefangen werden.
Das türkische Militär: mal Freund, mal Störfaktor des Westens
Aus dem Selbstverständnis als Hüter des Kemalismus heraus hat das türkische Militär insgesamt drei mal geputscht (1960, 1971 und 1980), 1999 brauchte das türkische Militär nur andeuten, dass es putschen wolle um den damaligen islamistischen Ministerpräsidenten Erbakan vom Amt zu verjagen. 1960 putschte das Militär gegen die amtierende Regierung von Menderes, da dieser den Laizismus zu Gunsten islamistischer Vorstellungen aufweichen wollte, die Umstürze von 1971 und 1980 waren dem gewalttätigen Rechts-Links Konflikt innerhalb der Türkei (1980 über 5000 Todesopfer) geschuldet. Deswegen hatte der Westen (denn es tobte der Kalte Krieg) für den Putsch von 1980 nur warme Worte übrig, stellte dieser doch sicher, dass das wichtige Nato-Land Türkei weiterhin als verlässlicher Verbündeter gegen die damalige Sowjetunion gezählt werden konnte, das Militär sorgte für Ordnung in der Türkei. In der Verfassung von 1982 sicherte sich das türkische Militär eine gewichtige Rolle in der türkischen Politlandschaft, der Nationale Sicherheitsrat, der allmonatlich tagte und in der Mehrheit vom Militär gestellt wurde, hatte offiziell eine „beratende“ Funktion, hatte aber in Wirklichkeit eine beeinflussende Rolle, konnte doch hier das Militär unverblümt mit Säbeln rasseln. Alle Parteien, die die Rolle des Militärs einschränken wollten, scheiterten samt und sonders. Doch im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen störte die starke Rolle des Militärs, hatten westliche Staaten den Putsch von 1980 noch wohlwollend zu Kenntnis genommen, kritisierten sie nun die türkische Verfassung. Derart vom Westen unterstützt, wagte die AKP das, was zuvor keiner politischen Macht in der Türkei gelang, sie zog dem Militär Stück für Stück die Zähne.
Der eigentliche Konflikt: die alte kemalistische Machtelite vs. aufsteigender bürgerlich-islamischer Machtelite
Der wirtschaftliche Aufschwung hat die politische Landschaft in der Türkei massiv verändert. Waren zuvor nur wenige Zentren in der Türkei wirtschaftlich entwickelt (Istanbul, Izmir etc), haben Tourismus, die florierende Textilproduktion und staatliche Großprojekte (drittgrößter Staudamm der Welt: Atatürk-Staudamm im so genannten Südostanatolien-Projekt) einen Shift in der türkischen Wirtschaft verursacht: ehemals landwirtschaftlich geprägte Regionen tendieren zu einer industriellen Produktion (auch in der Landwirtschaft), und zwar in Anatolien. Eine neue Schicht von Gewerbetreibenden und Produzenten hat sich aufgetan, diese ist konservativ (in den Wertevorstellungen), islamisch orientiert (wie ehedem), wohlhabend und zunehmend tonangebend in der Türkei. Dies ist das eigentliche Stammklientel der AKP (neben ärmeren Volksschichten, die die AKP aufgrund ihrer Wohlfahrtsversprechen wählen). Dieser neuen Schicht steht die alte Machtelite des Landes gegenüber, Beamte im Staatswesen, Angehörige des Militärs und der Verwaltung. Die Konflikt-Linie verläuft nicht zufällig am laizistischen Wesen des türkischen Staates. Das rigerose Kopftuchverbot in türkischen Amtsstuben, Universitäten und Schulen wollen die Kemalisten unverändert beibehalten, die AKP will das Verbot aufheben: es geht um mehr als um die Frage der Kopfbedeckungen türkischer Frauen (in den 80er Jahren galt das Kopftuchverbot, wurde aber geduldet), es geht um die Deutungshoheit.
Die Folgen des Verfassungsreferendums in der Türkei
Neben längst überfälligen Gesetzesänderungen (Stärkung der Frauen- und Kinderrechte, Verbot der Diskriminierung von Behinderten) beinhaltet die Verfassungsreform die Beschränkung des Militärs im Staatswesen. Der Nationale Sicherheitsrat wird in der Funktion eingeschränkt, türkische Militärgerichte können nur noch über militärische Angehörige richten, die Justiz wird durch das türkische Parlament bestimmt (wo die AKP die absolute Mehrheit inne hat), das Verfassungsgericht (seit jeher in kemalistischer Hand) muss sich dem Parlament beugen. Schon argwöhnen die Kemalisten einen Coup d´etat der islamisch-konservativen Schichten. Hinzu kommt das undurchsichtige Ergenekon-Verfahren (Verschwörung von Nationalisten und Kriminellen zum Umsturz der AKP), der korrupte „tiefe Staat“ (der in Zeiten des Kalten Krieges von den USA unterstützt wurde) wird zur Strecke gebracht. Dennoch können Mitnahme-Effekte, also das Ausschalten unliebsamer Kritiker der AKP-Regierung, nicht ausgeschlossen werden. Die AKP, einst eine Abspaltung der radikal-islamischen RP (Wohlfahrtspartei von Erbakan), ist auf dem besten Wege, ihre Stellung innerhalb der Türkei zu festigen, zum Nachteil der verärgerten alten kemalistischen Machteliten. Wie sich dieser Konflikt entwickeln wird, bleibt abzuwarten, derzeit scheint das Militär sich zurückzuhalten (auch weil sie International isoliert ist).
Die Folgen des Verfassungsreferendums in der türkischen Aussenpolitik
Mögen Westerwelle, Obama und Co das Resultat des Verfassungreferendums begrüßen, die Stärkung der AKP (die noch 2008 ein Verbotsverfahren des Verfassungsgerichtes überstehen musste) hat auch in der türkischen Außenpolitik Folgen. Zwar möchten die Angehörigen der neuen anatolischen Oberschicht den freien Zugang zum europäischen Markt (die Zollunion besteht schon), daher der Versuch der AKP die Beitrittsverhandlungen mit der EU erfolgreich abzuschliessen. Doch in der Außenpolitik gab es schon einen Schwenk. Die jahrelangen guten Beziehungen zu Israel (durch die Kemalisten gewollt) sind in letzter Zeit stark angespannt, Ministerpräsident Erdogan versucht sich als Sprecher in der islamischen Welt zu installieren. Der Iran, bis vor kurzem noch erklärter Feind der Türkei, entwickelt sich zu einem Partner in der türkischen Außenpolitik, die Isolation im Atomstreit wird durchbrochen. Allein dieser Shift im Nahen Osten wird unabsehbare Auswirkungen haben. Die Abwendung von Europa wird noch in Fahrt kommen, wenn die Beitrittsverhandlungen scheitern sollten.
Insgesamt steht die Türkei am Scheideweg, die AKP kann eine bürgerliche Demokratie nach westlichem Verständnis etablieren, sie kann aber auch radikal-islamischen Elementen in der Türkei Vorschub leisten. Die Wahl zwischen alten kemalistischen Eliten und den Neuen stellt sich nicht, das Augenmerk sollte sich auf zukünftige Entwicklungen innerhalb der Türkei richten. Eine unkritische Betrachtung der Rolle der AKP darf nicht gängige Praxis werden, die alten Machtstrukturen sollten im Gegenzug nicht hofiert werden.